Letzte Woche gleich mehrere Bücher beendet, so dass meine Leseliste mit einem Mal bei „0“ stand. Für mich ein großartiger Augenblick. In meiner Hochphase (oder sollte ich sagen in meinem Größenwahn) bestand die Liste aus über 130 Bücher. Viele der Bücher hielten sich folglich mehrere Jahre auf der Liste. An einigen Büchern las ich mehr als ein Jahrzehnt.
Darunter auch der 1. Teil von Prousts „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“. Allerdings hatte ich damals die sinnige Idee das Buch auf Italienisch zu lesen. Mir kam damals eine schöne gebundene Ausgabe unter die Finger. Gelegenheit macht Leser. Mein Fazit: Ich bewundere Proust für seinen Schreibstil und für sein psychologisches Einfühlungsvermögen. Als Lesegenuss taugte es für mich aber nur bedingt, weil sich insbesondere der erste Teil des Buchs in unzähligen Beschreibungen verlor. Seitenlange Ausführungen über die Arrangements von Blumen in der Kirche von Combray will ich nicht lesen, auch wenn sie noch so kunstvoll ausgeführt sind.
Der zweite Teil, der die Liebesgeschichte zwischen Swann und Odette enthält war angenehmer zu lesen. Ein Buch mit einer Handlung ist eben doch nicht ganz verkehrt.
Dann beendete ich T.C. Boyles „Der Samurai von Savannah“. Boyle braucht oftmals etwas bis sich die Geschichte entwickelt, aber wenn sie erst mal in Schwung kommt, dann gibt es kein Halten mehr und man klebt stundelang über dem Buch und stürzt sich von Kapitel zu Kapitel, weil er es meisterhaft versteht Spannung zu erzeugen.
Beeindruckt hat mich die „Härte“, mit der er seine eigenen Charakter behandelt. Man denkt sich „Nein, das hat er jetzt nicht getan“. Oh doch, er hat. Und so tänzelt die Geschichte, leichtfüßig zwischen Komik und Tragik. Großartig! Trotzdem hat mich „America“ mehr beeindruckt, die mit dem Roman hier viel gemein hat.
Das letzte Buch auf meiner Leseliste war A.L. Kennedys „Alles was du brauchst“. War ich bis zur Hälfte des Buches noch zuversichtlich, dass es mir gefallen könnte, so stellte sich doch mehr und mehr Verdruss beim Lesen ein. Letztlich trägt die ganze Konstruktion des Romans nicht: Da ist Mary Lamb, die als junge Schriftstellerin eine Art von Stipendium bei einer Schriftstellerkolonie erhält, die auf einer vorgelagerten walisischen Insel lebt. Ihr Mentor der Schriftsteller Nathan Staples ist gleichzeitig Marys Vater, der die Familie verlassen hat, als Mary noch sehr klein war. Mary weiß jedoch nichts davon und der ganze Spannungsbogen des Buchs beruht darauf, dass man darauf wartet, dass Nathan seine Tochter beiseite nimmt und ihr den Sachverhalt erklärt. Das hätte er schon sehr früh machen können, dann hätte das Buch allerdings keine 570 Seiten gedauert. Also muss der Charakter von Nathan so gestaltet werden, dass sich dieses Nicht-Sagen-Können psychologisch erklären lässt.
Auch sonst ist das Buch „überspannt“. Ständig tun Figuren dumme, überspannte Sachen, um irgendwie Schwung in die zähe Materie zu bekommen. Manchmal durchaus humorvoll. So etwa, wenn die Schriftstellerin Linda bei einem Tauchgang im Urlaub einem Weißen Hai begegnet, und enttäuscht ist als sie nicht gefressen wird. Keine Männer, die sie wollen, und selbst vom Hai verschmäht.
Auch verfügt A.L. Kennedy über profunde Kenntnisse der männlichen Anatomie, wie in Sätzen wie „‘Mein Hirn pocht sanft in meinen Eiern‘“, offenbar wird.
So genoss ich also einen Tag ohne ein einziges Buch auf meiner Leseliste. Der erste Tag seit 1998…
Am darauffolgenden Tag begann ich aber sodann mit neuen Büchern und jetzt ist die Liste wieder bei überschaubaren fünf Büchern angekommen. Weil auch einige sehr dicke dabei sind dürfte das bis Weihnachten allemal reichen.
Ich freue mich sehr auf Charles Dickens „Bleak House“. Ich habe vor fünf Jahren die BBC-Verfilmung verschlungen, und war überwältigt von der Geschichte, der dunklen, schmutzigen Atmosphäre London und den wundervollen Charakteren. Die herzensgute Esther, der hinterhältige Mr. Tulkinghorne, Mr. Guppy, der schmierige Advokat, die unglückliche Lady Dedlock… Bin so glücklich, dass das Buch noch so dick ist und ich viele Stunden damit verbringen werde.
Habe auch mit einem Haruki Murakami begonnen, den ich mir so lange aufbewahrt habe, dass ich ihn beinahe vergessen hätte, dass es ihn noch gibt. Bei Schriftstellern, die man einfach mag, erschrickt man bisweilen auch, wenn man merkt, dass man nun beinahe alles gelesen hat, und so war „Hard-boiled Wonderland“ für mich immer eine Reserve, auf die ich immer zurückgreifen konnte.
Bin auch hier erst am Anfang: und wieder die wunderbaren surrealen Murakami-Momente. Eigentlich kennt man sich noch nicht richtig aus und dennoch überwältigt einen schon die Intensität der ersten 20 Seiten…
Außerdem noch auf meiner Liste: Wolf Haas „Komm, süßer Tod“. Sprachlich einfach, was für zwischendurch. Dann: Georg Büchners „Lenz“: kurze Erzählung, bin schon fast durch. Und schon wieder ein T.C. Boyle: „Drop City“.
Die Liste der in diesem Jahr gelesen Bücher, geordnet nach Lesegenuss (nicht nach künstlerischer Wertschätzung!):
1. Wolfang Herrndorf: Arbeit und Struktur
2. T.C. Boyle: América
3. Wilhelm Genazino: Ein Regenschirm für diesen Tag
4. Stefan Zweig: Schachnovelle
5. T.C. Boyle: Der Samurai von Savannah
6. Haruki Murakami: Die unheimliche Bibliothek
7. Carl Dallago: Das Buch der Unsicherheiten
8. Yann Martel: Schiffbruch mit Tiger
9. Wolfgang Herrndorf: In Plüschgewittern
10. Marcel Proust: La strada di Swann
11. A.L. Kennedy: Alles was du brauchst
12. Jens Peter Jacobsen: Frau Marie Grubbe
13. Antonin Artaud: Frühe Schriften
14. Patrick Modiano: Place de l’Étoile
15. Uwe Johnson: Mutmaßungen über Jakob